07.06.2022

Depression nach Schlaganfall

Weltweit entwickelt etwa ein Drittel aller Betroffenen innerhalb des ersten Jahres nach einem Schlaganfall eine behandlungswürdige Depression. Begreift man sie als Teil des Bewältigungsprozesses, verliert sie ihren Schrecken und lässt sich behandeln.

Oftmals stellen sich die Symptome erst Monate nach dem akuten Ereignis ein. Viele Erkrankte und insbesondere Angehörige fühlen sich von den depressiven Entwicklungen überrumpelt. Diese zeigen sich ausgerechnet in einer Phase, in der die akute Bedrohung weitestgehend überwunden scheint. Die belastende Zeit im Krankenhaus, die kräftezehrenden Wochen der Rehabilitation liegen hinter den Betroffenen. Sie sind (im besten Fall) in das vertraute Umfeld ihres Zuhauses zurückgekehrt, umgeben von Familie und Freunden.

Doch an die Stelle des erwarteten Aufatmens treten mit einem Mal Gefühle von Antriebs- und Kraftlosigkeit. Eine Stimmung von Gedrücktheit und Verzagtheit bahnt sich Raum. Die Zurückgekehrten scheinen ihre Welt nur noch mit trauriger oder unbeteiligter Distanz wahrzunehmen. Sie sind schweigsam, in sich zurückgezogen. Und sie zeigen weder an Menschen noch Aktivitäten das Interesse, das man zu früheren Zeiten von ihnen gewöhnt war.

Betroffene blicken mit Selbstzweifeln und Angst in die Zukunft, fühlen sich dem Leben nicht mehr gewachsen. Nicht selten äußern sie die Sorge, von anderen abhängig zu sein und ihnen dabei zur Last zu fallen. Zuweilen können diese quälenden Gefühle reizbares und ungehaltenes Verhalten begünstigen. Das wiederum wird als beschämender Kontrollverlust erlebt. Sie ziehen sich stärker zurück, um die Gefahr weiterer aggressiv aufgeladener Interaktionen zu umgehen. So wächst nach und nach der Eindruck, von der sozialen Umwelt abgeschnitten und isoliert zu sein.

Der lange Weg der Krankheitsverarbeitung

Nun sind gedrückte Stimmung, Niedergeschlagenheit, ängstliches und zurückgenommenes Verhalten nicht stets und sofort mit einer behandlungswürdigen Depression gleichzusetzen. Vielmehr können sie Ausdruck der Krankheitsverarbeitung sein. Das ist ein notwendiger Prozess, der sich erst entfalten kann, wenn sich die Dinge wieder ein wenig „gelegt“ haben und Ruhe eingekehrt ist. Ruhe, um das Geschehene Revue passieren zu lassen und über die Bedeutung eines solch einschneidenden Krankheits- und Lebensereignisses nachzudenken.

Während in den ersten Wochen bis Monaten nach dem Schlaganfall Hoffnungen auf die baldige Rückkehr zum „alten“ und vertrauten Leben dominieren, entwickeln sich nach und nach sorgenvolle Gedanken, möglicherweise das Leben künftig mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen meistern zu müssen. Einige sind verunsichert, weil sie beobachten, wie die eigene Sinneswahrnehmung, das Denken oder Gedächtnis sich verändert haben. Nicht selten verschieben sich in Familie, Partnerschaft oder Freundschaften die Rollen- und Aufgabenverteilungen. Dies kann emotional fordernd und überfordernd sein.

Unter dem Eindruck des Schlaganfalls und seiner Folgen spüren viele die Notwendigkeit, soziale Beziehungen und Lebensziele auf den Prüfstand zu stellen. Manche hinterfragen Leistungsansprüche an die eigene Person und bewerten Prioritäten neu. Dabei können Betroffene äußerst hart mich sich ins Gericht gehen. Sie hadern vielleicht damit, nicht genug Selbstfürsorge betrieben oder ärztliche Empfehlungen nicht ausreichend befolgt zu haben und Ähnliches. Nicht wenige Menschen tragen sich mit der wiederholten Frage nach dem „Warum“.

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Trauerähnliche Entwicklungen

Solche Gedankengänge werden von unangenehmen Emotionen wie Ärger, Wut, Angst oder Verzweiflung begleitet. Obwohl diese Gefühle verunsichernd und bedrohlich wirken können, sind sie dennoch ein unverzichtbarer Teil der psychologischen Bewältigung. Die Konfrontation mit solchen unbequemen Gedanken und Gefühlen ebnen den Weg zu einem reflektierten Umgang, der eine Anpassung an die neue Lebenssituation ermöglicht.

Auf diese Weise lernen Betroffene, ihren Alltag schrittweise an die Veränderungen anzupassen. Das Ziel ist es, mittel- bis langfristig wieder zu einer zufriedenstellenden Lebensgestaltung zurückzufinden. Dieser Prozess der Bewältigung weist durchaus einige Parallelen zum Trauerprozess auf.

Ähnlich wie der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen stellt auch der Schlaganfall eine abrupte Ohnmachtserfahrung dar. Schlagartig ist die körperliche und geistige Unversehrtheit im höchsten Maße bedroht oder gar teilweise verloren. Das ist beispielweise so, wenn eine Halbseitenlähmung oder ein Gesichtsfeldausfall ein selbständiges Leben undenkbar erscheinen lässt.

In der Rückschau berichten viele Patientinnen und Patienten, dass sie sich im ersten Moment dieser schockartigen Erfahrung wie betäubt fühlten. Sie erlebten ihre Zeit im Akutkrankenhaus und in der Rehaklinik wie in einem „Autopilot-Modus“. Sobald sie ausreichend wach und bei Bewusstsein waren, ließen sie sich „mechanistisch“ auf den Behandlungsprozess, die Krankengymnastik oder Sprachtherapie etc. ein. Dabei realisierten sie nicht, was eigentlich passiert war. Erst nach und nach „setzte“ sich die Erkenntnis, dass in ihrem Leben etwas Einschneidendes eingetreten ist, was das eigene Ich bedroht.

Wie unterscheidet sich die „natürliche“ Krankheitsverarbeitung von einer Depression?

In einer körperlichen und emotionalen Ausnahmesituation „funktionieren“, also auf „Autopilot“ schalten zu können, ist eine überlebenssichernde Fähigkeit. Menschen können dadurch auch in größter Not alles Notwendige tun, um diese Krise möglichst unbeschadet durchzustehen.

Nach der überstandenen Bedrohung folgt die Evaluationsphase, in der man das Geschehene in seiner Bedeutsamkeit bewertet. Mögliche Konsequenzen für das weitere Leben werden be- und durchdacht. Im günstigen Fall gelingt es den Betroffenen im Laufe der Krankheitsverarbeitung, die erlebte Krise als einen Teil ihres Lebens zu akzeptieren. Als etwas, an dem sie wachsen und aus dem sie gestärkt in die Zukunft treten. Wie gut die Bewältigung gelingt, wird im Wesentlichen von folgenden Faktoren beeinflusst:

  • Ausmaß der Krankheitsfolgen und Behinderung
  • Persönlichkeitsstil
  • Umgang mit früheren Krisensituationen
  • Emotionale Unterstützung durch das psychosoziale Netz (Angehörige, Freunde etc.)

Mitunter sind das Krankheitsereignis und seine Folgen sehr weitreichend. Einige Betroffene fühlen sich zudem bereits aufgrund früherer Krisen stark belastet oder es fällt ihnen schwer, das Erlebte in Worte zu fassen. Es kann dann geschehen, dass Gefühle von ängstlicher Verunsicherung, Zukunftsangst, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit überhandnehmen. Bei einer solchen Entwicklung sollte an eine Depression als Reaktion auf den Schlaganfall in Betracht gezogen werden.

Nach den gültigen Beurteilungskriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) müssen für die Diagnose einer Depression folgende charakteristische Symptome vorliegen:

  • Anhaltende gedrückte Stimmung
  • Verminderung von Antrieb und Aktivität
  • Verlust an Freude und Interesse
  • Verminderung der Konzentration
  • Anhaltende Müdigkeit und Schlafstörungen
  • Beeinträchtigung von Selbstvertrauen und Gedanken von Wertlosigkeit
  • Schuldgefühle
  • Verlust an Appetit und Körpergewicht
  • Verlust an Libido

Die Anzahl der festgestellten Symptome bestimmt die Schwere der depressiven Erkrankung. Unterschieden wird zwischen einzelnen Episoden einer leichten, mittelgradigen oder schweren Depression. Häufig sind Symptome wie Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit in der ersten Tageshälfte am stärksten ausgeprägt. In den frühen Abendstunden sind sie weniger intensiv. Auch wenn Angst und Depression zwei unterschiedliche psychische Erkrankungen darstellen, können sie als Mischbilder auftreten. Das heißt: Auch ein depressiv erkrankter Mensch kann von Ängsten gepeinigt sein. Umgekehrt kann jemand mit einer Angststörung unter Symptomen wie Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit leiden, die für eine Depression so charakteristisch sind.

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Wann ist eine Depression behandlungswürdig?

Ein vertrauensvolles Gespräch, in dem verwirrende Gedanken, Sorgen oder Gefühle von Ratlosigkeit ausgesprochen werden, kann stets zur spontanen Entlastung beitragen. Dabei muss das Gegenüber nicht psychotherapeutisch ausgebildet sein. Ein Austausch im Kreise der Familie oder mit guten Freunden, kann gleichermaßen ein tröstendes Gefühl vermitteln, nicht alleine zu sein. Möglicherweise bleibt trotz dieses Austausches der Leidensdruck der Betroffenen unverändert hoch, weil eine anhaltende Antriebslosigkeit oder die fehlende Kraft ein aktives und bestärkendes Sozialleben erschweren. In diesem Fall sollte man eine Depression in Betracht ziehen.

Eine depressive Erkrankung sollte stets fachärztlich und fachpsychologisch begleitet werden. Betroffene und deren Angehörigen sollten keine Scheu davor haben, sich Unterstützung einzufordern. Bei Verdacht auf eine depressive Entwicklung sollte das Beratungsgespräch mit der Hausärztin oder dem Hausarzt, der Neurologin oder dem Neurologen gesucht werden. Gemeinsam kann dann über eine zielgerichtete Depressionsbehandlung nachgedacht werden.

Man kann sich ebenfalls direkt an eine psychotherapeutische Praxis wenden. Das Gespräch mit der Psychotherapeutin oder dem Psychotherapeuten kann Klarheit darüber bringen, ob eine behandlungswürdige Depression vorliegt.

Adressen von niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten in näherer Umgebung gibt es etwa bei der zuständigen Krankenkasse oder Kassenärztlichen Vereinigung (KV).

Bei einigen Betroffenen herrschen körperliche Begleiterscheinungen, wie etwa eine hohe innere Unruhe, Gedankenrasen oder Schlafstörungen und Ähnliches vor. In diesem Fall kann man parallel zur Psychotherapie eine unterstützende Behandlung mit Antidepressiva erwägen.

Hirnorganisch bedingte Depressionen

Zuweilen kommt es vor, dass Erkrankte nach einem Schlaganfall weder von Antidepressiva noch von einer Psychotherapie ausreichend profitieren. Selbst wenn die Maßnahmen kurzfristig als entlastend erlebt werden, können Gefühle von anhaltender Erschöpfung oder Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion fortbestehen.

In diesen Fällen sollte stets bedacht werden, dass infolge einer neurologischen Erkrankung Aufmerksamkeit und Konzentration, Sprache und Gedächtnis beeinträchtigt bleiben können. Auch die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation kann in Mitleidenschaft gezogen sein. So kann das Zeigen von Gefühlen über Mimik und Stimmlage erschwert sein. Das gilt auch für das Deuten und Verstehen von Emotionen, die von anderen Menschen gezeigt werden.

In solchen Fällen spricht die Psychologie von den neuropsychologischen Folgen eines neurologischen Ereignisses. Dabei handelt es sich um Veränderungen, die nicht ohne weiteres offensichtlich sind. Dennoch können sie ihre Wucht entfalten, indem sie sowohl die kognitive Leistungsfähigkeit als auch das emotionale Erleben und Verhalten nachhaltig stören. Unbehandelt können neuropsychologische Störungen den Erfolg einer Behandlung der Depression schmälern oder gar bedrohen.

Daher kann bei einer solchen Entwicklung eine ergänzende Abklärung durch eine neuropsychologische Untersuchung geboten sein. Von psychotherapeutischer und ärztlicher Seite kann dann eine sogenannte Differenzialdiagnostik eingeleitet werden. Dabei schließt man andere Erkrankungen mit ähnlichen Merkmalen aus.

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Mit vereinten Kräften zurück ins Leben

Eine Depression nach einem neurologischen Ereignis kostet Betroffene unendlich viel Kraft. Sie kann auch den Prozess der Rehabilitation und den Weg zurück ins Leben jenseits von Kliniken verzögern. Sie kann diejenigen, die an ihr leiden, sozial isolieren. Und dass, obwohl sich diese nichts sehnlicher wünschen als ein Leben inmitten der Menschen, die ihnen am Herzen liegen, mit denen sie lachen und weinen, Freude und Ärger, Glück und Unglück teilen – schlichtweg leben können.

Begreift man jedoch die Depression als Abschnitt des „Bewältigungsweges“ des Schlaganfalls, verliert sie ihren Schrecken und wird „händelbar“. Vor allem aber ist sie behandelbar.

Gemeinsam mit Familie und Freunden sowie Fachleuten aller Disziplinen können Betroffene diesen Weg aus der emotionalen Isolation hin zu einem bereichernden Leben meistern. Mit jedem Schritt dieses Weges stellt sich die tröstende Erfahrung ein, dass man trotz des einschneidenden Erlebnisses wirkmächtig handeln kann.


Haben Sie neurologische Fragen? Wir beraten Betroffene kostenfrei online und am Telefon. Mitglieder der Deutschen Hirnstiftung werden bevorzugt beraten. Bitte wenden Sie sich dazu an: info@hirnstiftung.org oder 030 531 437 936 (Mo-Fr, 10-14 Uhr).

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Autorin: Dr. phil. Caroline Kuhn, Akademische Direktorin und Leitung der Neuropsychologischen Universitätsambulanz an der Universität des Saarlandes

Weiterführende Literatur:

  • Kuhn, C. (2018). Ratgeber Schlaganfall, Schädelhirntrauma und Multiple Sklerose. Leben mit neurologischer Erkrankung gestalten. Heidelberg: Springer Verlag.
  • Luppen, A. & Stavemann, H.H. (2022). Und plötzlich aus der Spur…: Das Leben nach Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma und anderen neurologischen Erkrankungen. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Beltz Verlag.

Fachliteratur:

  • Ferro, J.M., Caeiro, L., Figueira, M.L. (2016). Neuropsychiatric sequelae of stroke. Nat. Rev. Neurol. 12, 269– 280. doi.org/10.1038/nrneurol.2016.46
  • Harrisn, M., Ryan, T., Gardiner, C. & Jones, A. (2016). Psychological and emotional needs, assessment, and support post-stroke: a multi-perspective qualitative study. In: Topics in Stroke Rehabilitation. DOI 10.1080/10749357.2016.1196908
  • Hughtes, A.K., Cummings, C.E. (2020). Grief and Loss associated with stroke recovery: A qualitative study of stroke survivors and their spousal caregivers. In: Journal of Patients Experience- Vol 7 (6). Pp. 1219. DOI: 10.1177/2374373520967796
  • Towfighi, A. et al. (2017). Poststroke Depression: A scientific statement for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke 48, e30–e43. doi.org/10.1161/STR.0000000000000113
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