21.07.2021
Neuropsychologische Folgen: Das Unsichtbare sichtbar machen
Viele neurologisch Erkrankte sind geistig schnell erschöpft, nehmen ihren Körper nicht richtig wahr oder leiden unter anderen Folgeerscheinungen. Für Mitmenschen sind diese unsichtbar – und das verstärkt das Leiden zusätzlich. Doch der Zustand bessert sich mit der Zeit, sobald sich das Gehirn regeneriert. Wirksam unterstützt werden kann der Prozess durch eine neuropsychologische Therapie.
Viele Menschen assoziieren eine neurologische Erkrankung mit offensichtlichen körpermotorischen Schädigungen wie einer Halbseitenlähmung (Hemiparese) und den sie begleitenden Gangunsicherheiten. Typische neurologische Ereignisse sind etwa ein Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma.
Andere Folgen sind hörbar wie Wortfindungsstörungen im Rahmen einer sich erholenden Aphasie (erworbene Sprachstörung) und sprechmotorisch bedingte Artikulationsstörungen (Dysarthrien). Diesen Krankheitsphänomenen gemeinsam ist, dass sie für das Umfeld offensichtlich sind. Meist sind sie äußerlich beobachtbar und damit sichtbar.
Weniger deutlich wahrnehmbar sind „unsichtbare“ Begleiter neurologischer Erkrankungen. Diese spüren nur die Betroffenen selbst. Für Familienangehörige oder Außenstehende sind sie im Alltag kaum nachvollziehbar. Es handelt sich hierbei um sogenannte neuropsychologische Funktionsstörungen.
Dazu gehören Störungen der
- Aufmerksamkeit und Konzentration,
- räumlichen Wahrnehmung und Orientierung,
- Sinneswahrnehmungen wie Riechen, Sehen, Hören, Schmecken und Fühlen,
- Sprache und sprachgebundenen Funktionen wie Rechnen,
- Merkfähigkeit und des Gedächtnisses,
- Planung und Steuerung von Handlungsabläufen,
- Einsichtsfähigkeit und sozialen Interaktionen,
- des emotionalen Erlebens und Verhaltens
Das „Heimtückische“ an Beeinträchtigungen einer oder mehrerer dieser Funktionsgruppen ist, dass sie oftmals schwer vermittelbar sind. Die Betroffenen erleben sie ausschließlich subjektiv. Ein Außenstehender kann sie, bei allem Mitgefühl, schwerlich nachvollziehen. Wie sieht die Welt aus, wenn man nur noch die Hälfte von ihr sieht, obwohl die Augen kerngesund sind (Halbseitenblindheit oder Hemianopsie)? Wie ist es, wenn sich Arme und Beine bewegen lassen, aber anfühlen als gehörten sie nicht mehr zum Körper? Das dem Umfeld zu erklären, dürfte jedem Menschen schwerfallen.
Dabei sind derartige Körperwahrnehmungsstörungen kein Ausdruck einer psychiatrischen Erkrankung. Sie sind Zeichen von Schwierigkeiten des Gehirns, sensorische Wahrnehmungen entlang der Extremitäten zusammenzuführen und zu einem komplexen „Körperbild“ zu integrieren.
Klinische Neuropsychologie: Das Unsichtbare sichtbar machen
Die „unsichtbaren“ Folgen sind Arbeitsgegenstand der Klinischen Neuropsychologie, die als interdisziplinäre Wissenschaft die Fächer Neurologie, Biologie und Psychologie miteinander verbindet. Neuropsychologinnen und Neuropsychologen untersuchen Funktionen des Gehirns, deren Funktionstüchtigkeit für das menschliche Wahrnehmen, Denken, Handeln und Fühlen unerlässlich sind. Diese sind nach Verletzung oder Erkrankung des Gehirns mitunter beeinträchtigt.
Dabei kommen Verfahren wie Tests und Fragebögen (in Papierform oder vom Computer unterstützt) zum Einsatz und selbstverständlich vertiefende Patientengespräche. Bei Störungen oder Ausfällen lassen sich viele der sogenannten neuropsychologischen Funktionen im Rahmen einer neuropsychologischen Therapie teilweise wiederherstellen. In der Regel untersuchen Neuropsychologen neurologische Patientinnen und Patienten bereits während der stationären Neurorehabilitation. Im Bedarfsfall leiten sie dort erste Therapiemaßnahmen ein.
Gesetzlich Krankenversicherte haben innerhalb der ersten 5 Jahre nach dem neurologischen Krankheitsfall einen Anspruch auf 60 Stunden ambulante neuropsychologische Therapie bei Neuropsychologen. Diese müssen von der kassenärztlichen Vereinigung des Bundeslandes zugelassen sein. Das bedeutet, dass sie nach Entlassung aus der Rehaklinik die neuropsychologischen Behandlungen ambulant fortführen können, wenn dies angezeigt ist.
Ein allzu bekannter „unsichtbarer“ Krankheitsbegleiter
Ein äußerst häufiges Beispiel ist die Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration. Diese manifestiert sich als rasche Ermüdbarkeit und stark herabgesetzte Belastbarkeit, die gerade in den ersten zwei bis drei Jahren nach dem Krankheitsfall ihren besonderen Tribut fordern.
Mitunter lässt im Alltag bei konzentrativer Beanspruchung bereits nach 20 bis 30 Minuten die Freude an Small Talk oder Zeitungslektüre spürbar nach. Zur großen Verwunderung der Betroffenen – haben sie doch ihren Besuch oder die Fernsehsendung mit Vorfreude herbeigesehnt. Nach und nach machen sich Gefühle großer Anstrengung sowie ein tiefes Unbehagen oder gar emotionale Ungehaltenheit breit.
Sie beobachten mit Erstaunen, wie die Aufmerksamkeit merklich nachlässt. Das Gehörte, Gelesene oder Besprochene „entwischt“ ihnen regelrecht. Sie müssen eine Textzeile mehrmals lesen oder den Gesprächspartner um Wiederholungen bitten. Diese Erschöpfung scheint ihre eigene Dynamik zu haben. Sie meldet sich auch an Tagen, an denen sich Erkrankte eigentlich ausgeruht und guter Dinge fühlen. Das ist für sie umso verwirrender.
Viele Betroffene bewerten sich sehr streng und befürchten, die nachlassende Aufmerksamkeit sei ein untrügliches Zeichen für einen Intelligenzverlust. Sie ermahnen sich voller Angst zu „mehr Anstrengung und Disziplin“ und, „stärker auf die Zähne zu beißen“.
Dennoch stellen sie mit großer Enttäuschung fest, dass der gewünschte Erfolg ausbleibt. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeitsspanne verkürzt sich trotz massiver Anstrengung weiterhin. Zuweilen reagiert der Körper auf die wachsende innere Anspannung mit einer muskulären Anspannung. Schrittweise entwickeln sich Spannungskopfschmerzen oder ein allgemeines Unwohlsein. Das verunsichert wiederum zusätzlich.
Diese Problematik der vorschnellen Erschöpfung und des raschen Abbaus von Aufmerksamkeit sowie Konzentration wird in der Fachsprache als Fatigue-Syndrom zusammengefasst. Fatigue ist Französisch und bedeutet Müdigkeit. Geistige (kognitive) wie körpermotorische Leistungen und Ausdauer sind bisweilen von einer Fatigue betroffen.
Es gibt begriffliche Differenzierungen des Syndroms und zwar im Kontext der sie bedingenden Erkrankung:
- So bezeichnet der Begriff „Post-Stroke-Fatigue“ (PSF) den obig umschriebenen Zustand von Menschen nach durchgestandenem Schlaganfall (Stroke = englisch für Schlaganfall).
- Das „Posttrauma-Fatigue-Syndrom“ beschreibt dieselbe Problematik nach überlebtem Schädelhirntrauma
- Beim Krankheitsbild der Multiple Sklerose (MS) stellt das MS-Fatigue-Syndrom nicht selten eine zentrale Herausforderung im Lebensalltag der Erkrankten dar.
Allen Menschen mit durchlebter neurologischer Verletzung oder Erkrankung ist das Problem einer eingeschränkten und herabgesetzten Belastbarkeit gemein. Das legen diese Begriffsunterscheidungen nahe. Dabei spielt es eine nachgeordnete Rolle, wo im Gehirn welches neurologische Ereignis seine Wirkung entfaltet hat. Mit einem Male haben Betroffene nicht mehr uneingeschränkt am Leben teil. Im Alltag können sie sich womöglich nicht mehr bedingungslos auf eine gewohnt schnelle Auffassungsgabe, „den eigenen Kopf“ verlassen. Diese wiederholte und frustrierende Erfahrung lässt niemanden kalt.
So reagieren manche Menschen mit Selbstzweifeln, depressiver Selbstabwertung oder Angst. Insbesondere wenn vor der neurologischen Erkrankung hohe Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit ihr Selbstverständnis ausmachten. Andere entwickeln eine Art „aggressiv-proaktiven Aktionismus“. Um dem neuen Umstand gerecht zu werden, versuchen sie den Alltag und alle darin enthaltenen Akteure akribisch zu strukturieren und „durchzuplanen“. Getreu dem Prinzip „Angriff ist die beste Verteidigung“. Das provoziert unweigerlich Unmut und leistet zahlreichen Konflikten Vorschub.
Die neue, emotionale Unsicherheit fordert ihren Tribut. Sie veranlasst Betroffene, mit wachsender Grundanspannung aus Erwartungsangst und kritischer Selbstbeobachtung durch den Lebensalltag zu gehen. Nicht selten entwickelt sich ein ungünstiger Teufelskreis aus immer höherer Grundanspannung und weiterer Minderbelastbarkeit. Neurologische Patientinnen und Patienten sollten sich nicht davor scheuen, sich Unterstützung durch eine Psychotherapie einzufordern. Etwa wenn Sie den Eindruck haben, dass eine emotionale Entlastung und das Besprechen der Situation mit einer neutralen Person guttäten.
Krankheitsverständnis als Voraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation
Das rasche Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration ist ein körperliches Indiz für die Regenerationsarbeit des Gehirns. Die Minderbelastbarkeit ist somit ein charakteristischer Begleiter in der Zeit der Neurorehabilitation und kein Zeichen für eine Intelligenzminderung. Verständlicherweise kann dieser Umstand irreführen und den Eindruck von reduzierter Auffassungsgabe oder gar Gedächtnisstörungen vortäuschen.
Das hat folgenden Grund: Wir prägen uns grundsätzlich schlechter Dinge ein, die wir aus Erschöpfung nicht in ihrer Komplexität erfassen und verarbeiten können. Was wir uns nicht einprägen, das erinnern wir später nicht. Wenn wir uns jedoch erholt fühlen, sind wir dazu besser in der Lage. Wir können unsere Aufmerksamkeit fokussieren und uns Zeit nehmen, um Informationen in Ruhe zu verarbeiten und abzuspeichern.
Demnach signalisiert das Gehirn mit der raschen Erschöpfung, dass es Pausen benötigt. Damit fordert es Pausen. Nur so kann es seine Regenerationsarbeit an den verletzten Hirnregionen effektivverrichten. So paradox es klingt: Durch Ausruhen unterstützen Betroffene ihr Gehirn aktiv bei seiner Arbeit.
Entscheidend ist die Balance zwischen Phasen von Anstrengung (Aufmerksamkeit, Konzentration) und regelmäßigen Pausen. Betroffene und Angehörige können gemeinsam beobachten, ab welcher Zeitspanne die Aufmerksamkeit und Konzentration nachzulassen beginnen. Setzt die Erschöpfung nach rund 20 Minuten ein, wäre nach 15 Minuten Gespräch oder Lesen eine Pause von 5 bis 10 Minuten gut. Ausschlaggebend ist es, merklich vor Eintritt der Erschöpfung zu pausieren. So genügt es oftmals, in einen anderen Raum zu gehen, etwas zu trinken, aus dem Fenster zu schauen oder Ähnliches. Es ist nicht nötig, sich hinzulegen, um sich zu erholen.
Im Übrigen ist das anfängliche Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration relativ unabhängig von der Art der Aktivität. Das heißt, auch ein belangloses Gespräch in angenehmer Atmosphäre kostet Kraft! In den ersten Wochen bis Monaten nach Erkrankung ist es üblich, dass Betroffene sich nach 10 bis 15 Minuten sehr müde und abgeschlagen fühlen. Und das obwohl „nicht viel passiert ist“.
Dieses Zeitfenster weitert sich im Laufe der kommenden Monate stetig. Nach etwa 6 bis 8 Monaten sind sie wieder in der Lage, sich ohne Zeichen großer Erschöpfung etwa 30 Minuten lang auf ein Gespräch, einen Text oder einen Fernsehbeitrag zu konzentrieren. Auch für das „gesunde“ Gehirn sind Belastungsdauer von etwa 45 Minuten optimal! Daher sind Schulstunden meist 45-minütig und verkürzen sich im Laufe des Schultags.
Geduld und Konsequenz sind wirkungsvolle Stellschrauben, um zu einer zufriedenstellenden Belastbarkeit von Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit zurück zu gelangen. Die „Erholungsgeschwindigkeit“ hängt also von der Einsicht in die Krankheitsfolgen ab. Und von der Fähigkeit, achtsam und wohlwollend mit den Rückmeldungen des Gehirns umzugehen.
Hier finden Sie eine Liste von Fachleuten, die neuropsychologisch behandeln.
Autorin des Beitrags: Dr. phil. Caroline Kuhn, Klinische Neuropsychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin, Leitung der Neuropsychologischen Lehr- und Forschungsambulanz, Universität des Saarlandes
Haben Sie neurologische Fragen? Wir beraten Betroffene kostenfrei online und am Telefon. Mitglieder der Deutschen Hirnstiftung werden bevorzugt beraten. Bitte wenden Sie sich dazu an: info@hirnstiftung.org oder 030 531 437 936 (Mo-Fr, 10-14 Uhr).
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