23.08.2023
Macht Multitasking krank?
Multitasking, erst recht digitales Multitasking, ist ein Zeichen unserer Zeit. Doch eine in Deutschland durchgeführte Studie zeigte nun, dass es im Körper Stressreaktionen auslöst, indem es das sympathische Nervensystem aktiviert.
Andere Stresssysteme des Körpers wurden zwar nicht „angeschaltet“, allerdings erlaubte die Versuchsanordnung auch nur die Messung des Effekts von Kurzzeiteffekts durch Multitasking. Der Präsident der Deutschen Hirnstiftung wertet die Studie als Warnsignal und plädiert dafür, digitales Multitasking zu reduzieren.
Multitasking allgegenwärtig
Multitasking ist ein Erfordernis der digitalen Zeit und bestimmt unseren Alltag zunehmend. Wer kennt das nicht? Man muss eigentlich einen Text schreiben oder eine Konstruktion berechnen, doch das konzentrierte Arbeiten wird durch den Eingang eiliger Mails, Anrufe oder Nachrichten durchbrochen, zwischendurch werden Videocalls erforderlich und man muss natürlich nebenbei seine Social Media Accounts im Blick behalten. Viele dieser Aktivitäten laufen parallel ab. Doch wie sehr stresst uns das eigentlich?
Stress durch Multitasking
Stress lässt sich messen, denn in Stresssituationen wird unser Körper in „Alarmbereitschaft“ versetzt. Entwicklungsbiologisch war das erforderlich, damit der Mensch bei Gefahr leistungsfähiger war, z. B. um fliehen oder kämpfen zu können. Noch heute werden in kritischen und überfordernden Situationen die körperlichen „Stresssysteme“ aktiviert. Es gibt mehrere physiologische Systeme, die miteinander zusammenhängen und interagieren.
1. Vegetatives Nervensystem reagiert
Als erstes reagiert das vegetative Nervensystem auf Stress, wobei die Schlüsselrolle der sogenannte Sympathicus spielt. Über das sympathische Nervensystem (SNS) werden die Hormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Dadurch steigt die Herzfrequenz an und die Blutgefäße verengen sich, was wiederum den Blutdruck erhöht. Gleichzeitig wird der Parasympathicus (Gegenspieler des Sympathicus) gehemmt und damit die Verdauung und Urinproduktion. Diese Reaktionen machen zur Bewältigung einer akuten Stresssituation Sinn, aber chronische Stressbelastungen mit Daueraktivierung des SNS können zu Symptomen wie Kopf- und Rückenschmerzen, Verspannungen oder Herzbeschwerden führen.
2. Weitere Stresshormone werden freigesetzt
Das zweite wichtige Stresssystem, mit dem weitere Energiereserven mobilisiert werden können, ist die neuro-hormonelle (neuroendokrine) Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), deren Aktivierung zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol aus der Nebennierenrinde führt. Cortisol ist grundsätzlich lebensnotwendig bei der Steuerung des Stoffwechsels, es erhöht den Blutzucker, die Konzentration und Informationsverarbeitung im Gehirn und verstärkt im Rahmen der Stressreaktion die Adrenalin-Wirkungen. Doch dauerhaft kann auch das krank machen: Cortisol kann zur Appetitsteigerung und Übergewicht führen und die Entstehung von Typ-2-Diabetes begünstigen. Außerdem unterdrückt Cortisol die Abwehrreaktionen gegen Krankheitserreger – jeder kennt es, dass man in Stressphasen anfälliger für Infekte ist.
3. Immunsystem in Alarmbereitschaft
Als drittes reagiert, wenn auch verzögert, das Immunsystem auf Stress, indem es den Körper z. B. darauf vorbereitet, mögliche Wunden zu heilen und die Erreger-Abwehr zu stärken. Es kommt u.a. zum Anstieg der weißen Blutkörperchen und anderer Immunzellen, Entzündungsvorgänge werden vorbereitet. Doch die „Alarmbereitschaft“ des Immunsystems raubt Energie, man fühlt sich auf die Dauer müde und abgeschlagen.
Auswirkungen von Multitasking genauer untersucht
Welche Auswirkungen digitale Stressoren wie Multitasking und häufige Arbeitsunterbrechungen auf diese drei körperlichen Stresssystem haben, untersuchte nun eine Studie aus Erlangen/Nürnberg, München und Bonn [1]. Unter kontrollierten Versuchsbedingungen wurden 186 gesunde Personen (mittleres Alter 23±4 Jahre, ca. 75 % weiblich) getestet. Die Teilnehmenden wurden verschiedenen Testsituationen zugeteilt, darunter passiven Aufgaben (z. B. ein Video anschauen) oder aktiven (z.B. eine Aufgabe lösen), digitalen und nicht-digitalen. Entweder einzeln oder kombiniert als Multitasking.
Das wesentliche Ergebnis: Bei Multitasking kam es zu einer deutlichen Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Auch die Studienteilnehmer nahmen diese Situationen als „stressig“ war, Eigenwahrnehmung und körperliche Reaktion deckten sich also. Interessant war aber auch: Die Aktivität der HPA-Achse (Cortisol-Ausschüttung) sowie die immunologischen Marker zeigten keine signifikanten Veränderungen im Testverlauf.
Folgen von andauerndem Multitasking
„Das menschliche Gehirn kann nur eine geringe Anzahl an Aufgaben parallel erledigen. Erst recht, wenn die Aufgaben ähnliche Hirnregionen fordern. So ist Bügeln und gleichzeitig zu singen weniger anspruchsvoll, als einer Fachdiskussion in einem Meeting zu folgen und nebenbei eine Mail zu beantworten – besonders dann, wenn man solche Mehrbelastungen Tag für Tag auf sich zu nimmt. Die Versuchsanordnung analysierte auch nur die Wirkung von kurzzeitigem Stress durch Multitasking. Nur ein Stresssystem wurde in Alarmbereitschaft gesetzt, sehr wahrscheinlich wird aber auch mittelfristig die HPA-Achse und das Immunsystem aktiviert, wenn ‚Multitasking-Stress‘ über eine längere Zeit das Leben bestimmt“, erklärt Prof. Dr. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung. Denn die Langzeitfolgen der Aktivierung aller drei Stresssysteme prägten schließlich das Krankheitsbild des Burnouts.
Studie ist Warnsignal
„Das Ergebnis der Studie ist ein klares Warnsignal. Wir sollten versuchen, digitales und nicht-digitales Multitasking zu reduzieren, stattdessen besser eine Aufgabe nach der anderen erledigen. Außerdem sollte man sich möglichst vor störenden Unterbrechungen schützen, und beispielsweise auch die ständige Erreichbarkeit überdenken – dies gilt praktisch für alle Situationen mit Mehrfachbelastungen – am Arbeitsplatz wie im Privatleben“, lautet die Empfehlung des Experten.
Erbguth fügt hinzu: „Zumal es am Ende auch auf die Qualität der Leistung geht. Eine ältere Untersuchung konnte zeigen, dass maximal zwei Aufgaben nebeneinander für das Gehirn noch zu bewältigen sind [2]. Hat man mehr davon gleichzeitig im Kopf, sinkt die Qualität deutlich ab und man hätte besser daran getan, sie nacheinander zu bearbeiten.“
Mythos Frauen und Multitasking
Zudem räumt Prof. Erbguth abschließend mit einem gängigen Vorurteil auf. „Frauen beherrschen Multitasking nicht besser als Männer, das haben mittlerweile zahlreiche Studien gezeigt. Vielleicht ist dieses Rollenklischee auch eine Ursache für die höhere Burnoutrate von Frauen. Sie fordern sich womöglich mehr Multitasking ab als Männer, da sie es vermeintlich können müssen.“
Quellen:
[1] Becker L, Kaltenegger HC, Nowak D et al. Biological stress responses to multitasking and work interruptions: A randomized controlled trial. Psychoneuroendocrinology. 2023 Aug 2; 156: 106358. doi: 10.1016/j.psyneuen.2023.106358.
[2] Ophir E, Nass C, Wagner AD. Cognitive control in media multitaskers. Proc Natl Acad Sci U S A. 2009 Sep 15;106(37):15583-7. doi: 10.1073/pnas.0903620106. Epub 2009 Aug 24.
Haben Sie neurologische Fragen? Wir beraten Betroffene kostenfrei online und am Telefon. Mitglieder der Deutschen Hirnstiftung werden bevorzugt beraten. Bitte wenden Sie sich dazu an: info@hirnstiftung.org oder 030 531 437 936 (Mo-Fr, 10-14 Uhr).
Nutzen und fördern Sie unsere kostenfreie Beratung!
Ihre Spende oder Mitgliedschaft hilft uns helfen.
Diesen Artikel weiterempfehlen: