24.10.2021

Neurologische Krankheiten sind häufiger als gedacht

Patienten mit neurologischen Krankheiten wollen berechtigterweise wissen, ob ihre Erkrankung denn häufig ist. Die korrekte und kurze Antwort lautet, dass die neurologischen Krankheiten zu den häufigsten gehören, was aber viele Menschen nicht befriedigt. Dieser Beitrag soll deshalb aus einer statistischen Perspektive erläutern, wie häufig neurologische Erkrankungen tatsächlich sind und wie sehr die Bevölkerung insgesamt durch die neurologischen Krankheiten belastetet ist.

Häufigkeiten und Bedeutung neurologischer Krankheiten

In einer kürzlich erschienen Analyse wurde die Krankheitslast durch neurologische Erkrankungen in Europa im Jahre 2017 untersucht (Deuschl et al., 2020). Dies schloss natürlich auch die Zahl und Schwere der neurologischen Krankheiten in Deutschland ein und darüber wird hier berichtet. Diese Analyse basiert auf einer riesigen Datenbank, die von einem speziellen Institut geführt wird (Global Burden of Disease (GBD) Studie, Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), University of Washington, Seattle, WA 98121, USA), die aus zwei Gründen einzigartig ist: Diese Datenbank erhält Beiträge von über 1000 Forschern aus der ganzen Welt, die bestimmten Qualitätskriterien genügen müssen. Zweitens erstellt das Institut Modellrechnungen, die es erlauben, zuverlässige Aussagen sogar über Länder zu machen, von denen gar keine Daten zu erhalten sind.

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Wie viele Menschen haben in Deutschland neurologische Erkrankungen?

In Deutschland als dem bevölkerungsreichsten Land in Westeuropa gab es im Jahre 2017 über 49,5 Mio. neurologisch erkrankte Menschen. Das sind 59,6 % der Bevölkerung. Tatsächlich ist dieser Wert in vielen Ländern und Kontinenten ähnlich. In der Europäischen Union liegt er bei 60,1 %, in Zentraleuropa bei 58,7 %, in Osteuropa bei 62 % und weltweit bei 50,9 %.

Diese hohen Zahlen überraschen zunächst. Sie haben aber gute Gründe und werden verständlich, wenn wir nachfragen, welche verschiedenen neurologischen Krankheiten in Deutschland vorkommen (siehe Abbildung 1). Die weit überwiegende Mehrzahl aller Patienten leidet an Kopfschmerzen, wobei nur die Migräne und der Spannungskopfschmerz in der Statistik erfasst werden. Als weitere Ursachen folgen der Schlaganfall, die Alzheimer-Krankheit, die Epilepsie, die Parkinson-Krankheit, Multiple Sklerose, entzündliche Hirnerkrankungen und die Muskelkrankheiten.

Natürlich ist die Häufigkeit einer Erkrankung nur eine von mehreren Messzahlen, die darüber Auskunft geben, wie belastend eine Erkrankung für die Gesellschaft ist. Man verwendet deshalb in zweiter Linie die Zahl der Sterbefälle durch eine Erkrankung (siehe Abbildung 2). Hier liegen dann natürlich die großen Volkskrankheiten vorne, die leider oft das Leben begrenzen. Das sind vor allem die Alzheimer-Krankheit und der Schlaganfall, gefolgt von der Parkinson-Krankheit, den Hirntumoren, den Epilepsien, den Muskelkrankheiten, der multiplen Sklerose und den Hirn- und Hirnhautentzündungen.

Die dritte Maßzahl, die die Krankheitsbelastung durch neurologische Erkrankungen anzeigt, sind die “Verlorenen Lebensjahre durch die krankheitsbedingte Behinderung” (Disability Adjusted Life Years, siehe Abbildung 3). Diese Messzahl setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen wird die Zahl der Jahre aufgerechnet, die Patienten und Patientinnen mit einer Erkrankung leben, die ihre Lebensqualität herabsetzt. Wenn ein Schlaganfallpatient mit schwerer Halbseitenlähmung eine Lebensqualität von nur noch 50 % hat, wird er für dieses eine Jahr mit einem halben Jahr fehlender Lebensqualität in die Statistik eingehen. Hinzu kommen noch die Jahre, die ein Kranker im Vergleich zur Normalbevölkerung wegen der Erkrankung vorzeitig gestorben ist. Hier zeigt sich nun, dass sowohl die großen Krankheiten Schlaganfall und Alzheimer-Krankheit, aber auch die Migräne und der Spannungskopfschmerz, Epilepsien, die Parkinson-Krankheit und andere einen großen Beitrag leisten.

Wie belastend die neurologischen Krankheiten für die Bevölkerung sind, wird auch deutlich, wenn man sie mit den anderen Krankheitsgruppen vergleicht. Sie sind Nummer 1 nach der Häufigkeit der Erkrankungen. Was die Todesursachen und die verlorenen Lebensjahre angeht, liegen die neurologischen Krankheiten nach den Krebserkrankungen und den Herzerkrankungen auf Platz 3 unter allen Krankheitsgruppen.

Um dieser großen Menge von Patienten gerecht zu werden, bedarf es kluger Konzepte, um wirksam aber auch effizient zu helfen. Das betrifft sowohl die stationäre als auch die ambulante Behandlung. Hier ist in den letzten Jahrzehnten vieles besser geworden. Allerdings bleibt die Versorgung besonders auf dem Land oft noch hinter dem Wünschenswerten zurück. Neue Versorgungsformen können die Situation entscheidend bessern. Das beste Beispiel hierfür sind die Schlaganfall-Einheiten (Stroke-Units), die das Überleben und die Lebensqualität nach Schlaganfall entscheidend verbessert haben. Auch für viele andere neurologische Krankheiten gibt es hocheffiziente Behandlungen und integrierte Behandlungskonzepte, die besonders für Patienten reserviert sind, denen die Standardbehandlung nicht ausreichend helfen kann. Die Hirnstiftung arbeitet daran, für die Patienten in Deutschland das Informationsangebot und damit die Versorgung zu verbessern.

Haben Sie Fragen? Wir helfen Erkrankten und Angehörigen neutral und kostenfrei im Online Chat und am Telefon unter 030 531 437 936 (Mo-Fr, 10-14 Uhr).


Autor: Senior-Prof. Dr. Dr. h.c. Günther Deuschl, Klinik für Neurologie, UKSH, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Literatur: Deuschl G, Beghi E, Fazekas F, Varga T, Christoforidi KA, Sipido E, Bassetti CL, Vos T, Feigin VL. The burden of neurological diseases in Europe: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet Public Health 2020; 5(10): e551-e67

Titelbild: iStock.com/shapecharge

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