29.09.2021

Botulinumtoxin – ein heilsames Gift

Fast jeder Mensch kennt es als Mittel gegen Falten: Botox. Auch in der Neurologie kommt dieses biologische Gift unter seinem ursprünglichen Namen Botulinumtoxin zum Einsatz. Dort hilft es etwa bei Muskelkrämpfen oder Migräne. Die Geschichte einer beispielhaften Karriere eines Medikaments. 

Es ist nicht ganz ungewöhnlich, dass Medikamente aus Substanzen gewonnen werden, die eigentlich in der Natur als tödliches Gift wirken. Paracelsus, ein berühmter Arzt des Mittelalters, hat diese Erkenntnis bereits 1574 zu Papier gebracht und schrieb „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist“.

Ein gutes Beispiel für die segensreiche Wirkung eines starken Gifts bei Krankheiten ist das Bakteriengift Botulinumtoxin. Als Medikament hat das Toxin in den letzten 40 Jahren eine beispielhafte Karriere gemacht. Es hat die Therapie vieler neurologischer Krankheiten revolutioniert. In der Öffentlichkeit und in den Medien wird oft der verkürzte Name „Botox“ verwendet. Darunter ist das Gift besser bekannt. „Botox“ ist allerdings der Handelsname von nur einem der vier in Deutschland zugelassen Präparate.

Was bewirkt Botulinumtoxin?

Abhängig von der Dosis schwächt oder lähmt Botulinumtoxin die Muskeln. Es stoppt die Übertragung des Botenstoffs Acetylcholin, mit dem Nerven bei Erregung den Muskel in Aktion setzen. Bei einer Vergiftung gelangt das Toxin in den Kreislauf und alle Muskeln werden gelähmt. Zur Therapie werden sehr geringe Mengen in genau diejenigen Muskeln injiziert, die geschwächt oder entkrampft werden sollen.

Aber das Toxin kann noch mehr: Es unterbricht auch die Ausschüttung der Sekrete in vielen Drüsen des Menschen und trocknet sie damit aus. Das funktioniert zum Beispiel an den Schweißdrüsen, den Speichel- oder Tränendrüsen. Schließlich werden auch Botenstoffe gehemmt, die bei der Schmerzwahrnehmung eine Rolle spielen.

Lebensmittelvergiftungen durch Botulinumtoxin

Dr. Justinus Kerner © Wikimedia/gemeinfrei

Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der schwäbische Arzt und Dichter Dr. Justinus Kerner in Württemberg tödliche Vergiftungen beobachtet, die mit Muskellähmungen und einem trockenen Mund begonnen hatten. Am Ende konnten die Betroffenen nicht mehr atmen und schlucken. Kerner hatte herausgefunden, dass sich das Gift vor allem in nicht ausreichend geräuchertem Schinken oder zu kurz gekochten Würsten entwickelt. Daher hieß das heutige Botulinumtoxin damals „Wurstgift“ und galt als die Ursache vieler Lebensmittelvergiftungen.

Bereits Justinus Kerner spekulierte 1822, ob man das Gift in kleinen Mengen vielleicht zur Therapie einsetzen könnte, wenn man es in der Zukunft genauer kennen würde. Bakterien kannte man zu dieser Zeit noch nicht. Ein paar Jahrzehnte später – Ende des 19. Jahrhunderts – boomte die Bakterienforschung in Europa. Das führte 1895 zur Entdeckung, dass das Wurstgift durch ein Bakterium produziert wird.

Anlass war ein Leichenschmaus in der belgischen Stadt Ellezelles, bei dem fast alle Mitglieder der 34-köpfigen Blaskapelle, die zur Beerdigung eines Einwohners gespielt hatte, innerhalb von wenigen Tagen schwer erkrankten und drei sogar starben. Alle hatten geräucherten Schinken gegessen.

Clostridium botulinum © flickr.com/Argonne National Laboratory

Zur Klärung der Lebensmittelvergiftung zog man den renommierten belgischen Mikrobiologen Emile Pierre van Ermengem hinzu. Der fand bei der Obduktion ein Bakterium sowohl in den Organen der Verstorbenen als auch im verzehrten Schinken. Das Bakterium erhielt später den Namen „Clostridium botulinum“ und ist das „Geschwisterbakterium“ des Tetanus-Erregers.

Während das Tetanusbakterium (Clostridium tetani) mit seinem Gift Muskelkrämpfe verursacht, bewirkt Botulinumtoxin genau das Gegenteil: Es schwächt und entkrampft damit Muskeln. Es ist das stärkste bekannte Gift. Im 2. Weltkrieg gab es Überlegungen, Botulinumtoxin als biologisches Kampfmittel einzusetzen und der irakische Diktator Saddam Hussein stand im Verdacht, ganze Tanks mit dem Gift gefüllt zu haben.

Schwerter zu Pflugscharen: Einsatz von Botulinumtoxin für die Therapie

Nach dem 2. Weltkrieg hatten Forscher aus den USA und in England kleine Mengen an Botulinumtoxin an Forscher weitergegeben, die die Idee hatten, es zur Schwächung krankhaft überaktiver Muskeln zu nutzen. Das funktionierte Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts vor allem an den Augenmuskeln beim Schielen: Das Toxin wurde in extrem geringen Mengen in einen überaktiven Muskel an den Augen eingespritzt.

Das funktionierte zwar ganz gut, wirkte aber nicht dauerhaft. Daher erwies sich die Operation des Augenmuskels als nachhaltiger. Als Nächstes wurden krankhafte Verkrampfungen im Gesicht und Nacken erfolgreich therapiert. Diese treten vor allem bei den Dystonie-Erkrankungen auf, bei denen es durch eine Fehlsteuerung im Gehirn zu Lidkrämpfen oder zu einem Schiefhals kommen kann.

© fotolia/damir

Die deutschen Neurologen waren weltweit führend bei der Entwicklung der Behandlung mit Botulinumtoxin. Seit fast 30 Jahren sorgt der „Arbeitskreis Botulinumtoxin“ der „Deutschen Gesellschaft für Neurologie“ mit über 600 Mitgliedern für die Ausbildung der Neurologen in der Therapie. Der Arbeitskreis ist Kooperationspartner der Deutschen Hirnstiftung e.V.

Bis heute sind immer neue Einsatzgebiete und Zulassungen durch die Arzneibehörden hinzugekommen. Neben der Spastik werden auch die Speicheldrüsen bei zu starkem Speichelfluss – z.B. bei der Parkinson-Erkrankung – mit Injektionen von Botulinumtoxin behandelt. Auch bei der chronischen Migräne wird Botulinumtoxin eingesetzt, wenn andere Medikamente zuvor versagt haben.

Nach einer Spritze mit Botulinumtoxin dauert es einige Tagen bevor sich die Wirkung einstellt. Der Effekt hält etwa 3 Monate an. Dann nimmt die unterbrochene Verbindung zwischen Nerv und Muskel wieder ihre Funktion auf. So wird eine neue Injektion notwendig.

Durch die Behandlungen am Auge fiel einem kanadischen Ehepaar auf, dass durch die Muskelentspannung nach den Spritzen auch die Falten um die Augen verschwunden waren. Damit war der Startschuss für die Anwendung in der Kosmetik als Faltenmittel gegeben. Obwohl Botulinumtoxin in der Öffentlichkeit meist in Verbindung mit der Faltenbehandlung gebracht wird, wurde es dafür erst 10 Jahre nach der Genehmigung für die Anwendung bei neurologischen Erkrankungen zugelassen.

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Zugelassene Anwendungen von Botulinumtoxin in Deutschland

In den letzten Jahrzehnten haben die europäischen und deutschen Zulassungsbehörden eine Vielzahl von Anwendungen nach entsprechenden wissenschaftlichen Studien offiziell zugelassen. Eine solche Zulassung ist die Voraussetzung dafür, dass die Krankenkassen die Behandlung mit dem Toxin bezahlen.

Neurologische Erkrankungen

  • Beidseitiger Lidkrampf (Blepharospasmus), einseitige Gesichtszuckungen (Spasmus hemifacialis)
  • Zervikale Dystonie (Schiefhals, Torticollis)
  • Spastik (Hand, Arm, Bein, Fuß) bei Erwachsenen und Kindern ab 2 Jahren u.a. Spitzfuß (infantile Zerebralparese)
  • Chronische Migräne (mehr als 15 Tage im Monat, die auf andere Medikamente nicht anspricht)

Blasenfunktionsstörungen

  • Überaktive Blase mit Harninkontinenz und Harndrang (die auf Medikamente nicht ansprechen)
  • Harninkontinenz bei Erwachsenen mit Überaktivität der Blase bei neurologischen Erkrankungen

Haut und Drüsen

  • Schweißdrüsen bei starkem Achselschwitzen
  • Speicheldrüsen bei chronisch krankhaft verstärktem Speichelfluss (Sialorrhö, Hypersalivation)

Kehlkopf

  • Kehlkopfverkrampfung beim Sprechen (spasmodische Dysphonie, laryngeale Dystonie)**

Kosmetische Anwendung

  • Behandlung von Gesichtsfalten

* die unterschiedlichen Indikationen sind für die vier Präparate (Botox, Dysport, Neurobloc, Xeomin in unterschiedlicher Weise zugelassen. Einzelne Präparate haben für einzelne Anwendungen keine Zulassung
** Sondersituation: keine Regelzulassung; aber nach Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) erstattungsfähig

Über 80 experimentelle Anwendungen

Seit vielen Jahren wird das Toxin auch bei anderen Störungen und Erkrankungen in Einzelfällen eingesetzt: Das Spektrum reicht von Einspritzungen in einen überaktiven Speiseröhren-Ringmuskel, der das Schlucken behindert, bis hin zur Behandlung von Prostata-Entzündungen. Insgesamt sind mehr als 80 Anwendungen veröffentlicht worden. Eine Anwendung außerhalb der Zulassung nennt man „Off-Label-Anwendung“. Eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen ist dann nur in besonderen gut begründbaren Einzelfällen möglich.

Der Siegeszug des Toxins geht weiter

Inzwischen gibt es viele Ideen, wie man am Molekül des Botulinumtoxins maßgeschneiderte Veränderungen vornehmen kann, um entweder eine kürzere oder eine längere Wirkung zu ermöglichen. Auch kann man versuchen, die Doppelkette des Toxins aus einer leichten und schweren Kette zu trennen, um an die jeweilige Kette andere Moleküle anzusetzen.

Molekül des Botulinumtoxins (Ausschnitt) © Wikimedia/CC0 1.0

Die schwere Kette fungiert nämlich als eine Art Pfadfinder, um das eigentliche Toxin – die leichte Kette – in die Nervenzellen einzuschleusen. So kann man das Toxin – die leichte Kette – mit einem anderen Pfadfinder verbinden und es in andere Zellen einschleusen. Umgekehrt kann man an den Pfadfinder der langen Kette andere Moleküle als das Toxin anheften, um diese in die Nervenzellen einzuschleusen. Nach 40 Jahren ist das „alte Gift“ immer noch für Überraschungen gut. Es bleibt spannend.


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Autor: Prof. Dr. med. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Klinikum Nürnberg

Titelbild: iStock/seb_rai

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