Die Neurologie hat sich in den letzten Jahrzehnten mit einer unglaublichen Dynamik entwickelt. Die Forschung ermöglicht heute faszinierende Einblicke und es gibt immer mehr therapeutische Möglichkeiten. Viele neurologische Krankheiten können so heute gut behandelt werden.
Die Anfänge der Neurowissenschaften und der Neurologie sind älter als gedacht. Sie gehen auf die Faszination des Unbegreiflichen – unser Gehirn – zurück. Die wohl älteste schriftliche Überlieferung zur Hirnforschung findet sich schon bei den vorchristlichen Ägyptern. Es handelt sich dabei um das sogenannte Papyrus Smith. Hierin werden bereits Ursachen für Kopfschmerzen und deren Behandlung beschrieben, aber auch erste Bewegungsstörungen. Dies sind die ersten Beschreibungen neurologischer Erkrankungen. Die heutige Neurologie beschäftigt sich mit dem Nervensystem, also dem Gehirn und dem Rückenmark, sowie peripheren Nerven, Muskulatur und Gefäßen, seinen Verbindungsstrukturen, seinen Erkrankungen und deren medizinische Behandlung.
Warum aber ist das Wissen um neurologische Erkrankungen heutzutage so wichtig?
Neurologische Erkrankungen stehen inzwischen weltweit an erster Stelle der Ursachen für den Verlust von Selbstständigkeit und Lebensqualität. Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz, Kopfschmerz, Multiple Sklerose oder Parkinson sind in Europa die häufigste Ursache für Behinderungen und die zweithäufigste Ursache für Todesfälle. Doch die Neurologie hat sich in den letzten Jahrzehnten mit einer unglaublichen Dynamik entwickelt. Dies soll anhand von drei Beispielen neurologischer Erkrankungen erläutert werden.
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Schlaganfall: „Time is Brain“
Ein wichtiges Beispiel ist der akute Notfall, der Schlaganfall. Der Schlaganfall gehört zu den häufigsten schweren Erkrankungen in Deutschland. Etwa 270.000 Menschen sind in Deutschland pro Jahr betroffen. Bei dem sogenannten ischämischen Schlaganfall kommt es zu einer Minderung der lokalen Blut- und damit Sauerstoffversorgung im Gehirngewebe.
Der „heftige Schlag wie ein Blitz“ (Apoplexia) wurde bereits vor mehr als 2.000 Jahren von Ärzten in den hippokratischen Schriften beschrieben. Ein akutes Eingreifen war damals undenkbar. Der berühmte griechische Arzt Galen empfahl damals allerdings schon eine ausgewogene Ernährung, Laufen und Sport – und das gilt in der Vorbeugung heute noch.
Lange war die Akuttherapie sehr eingeschränkt. Doch das hat sich in den 90er Jahren geändert. Da die Gehirnzellen bei Unterbrechung der Sauerstoffversorgung innerhalb weniger Minuten absterben – muss schnell gehandelt werden („Time is Brain“). Die frühzeitige Erkennung von Schlaganfall-Symptomen ist somit entscheidend für eine rechtzeitige Diagnosestellung und Behandlung.
Mit den heutigen bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie (CT), der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) und der erweiterten Darstellung der Hals- und Gehirngefäße mittels Ultraschalles und Angiographie können wir uns nicht nur das Gehirngewebe, sondern auch die Blutgefäße im Detail anschauen. Das ist wichtig, um die Größe des Schlaganfalls zu bestimmen und die Ursache zu finden. Denn bei der Therapie geht es darum, die Durchblutung möglichst rasch wiederherzustellen.
1996 wurde zunächst in den USA und dann alsbald auch bei uns die sogenannte systemische Thrombolyse eingeführt. Hierbei handelt es sich um ein Medikament, das über die Vene gegeben werden kann, um Blutgerinnsel aufzulösen. Dies sollte möglichst rasch, innerhalb von 4,5 Stunden erfolgen.
Ein weiterer großer Fortschritt in der Therapie ist die mechanische Thrombektomie, die seit 2008 zur Verfügung steht. Sie kommt bei bestimmten Formen des ischämischen Schlaganfalls zum Einsatz, zum Beispiel wenn ein großes Hirngefäß verstopft ist. Hierbei wird unter Röntgenkontrolle ein sehr dünner Katheter über die Leiste durch die Halsschlagader bis zum Blutgerinnsel vorgeschoben. Das Blutgerinnsel wird erfasst und entfernt oder kann auch mit einer Art „Mini-Staubsauger“ abgesaugt werden.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Therapie des Schlaganfalls war die Einführung von Schlaganfall-Spezialstationen, den „Stroke Units“, im Jahr 1990 in Deutschland. Auf einer Stroke Unit werden Patienten in der Akutphase des Schlaganfalls intensiv aus einem Team von Ärzten und Pflegepersonal zusammen mit Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Schluck- und Sprachtherapeuten (Logopäden) sowie Sozialarbeitern betreut.
Dieser rasante Fortschritt bei den Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Sterblichkeitsrate nach einem Schlaganfall in den letzten 30 Jahren deutlich zurückgegangen ist. Inzwischen gibt es in Krankentransportwagen integrierte Mobile Stroke Units. Mit der Telemedizin können sich immer mehr Ärzte vernetzen, um die Behandlung noch weiter zu verbessern.
Parkinson: Eine Erfolgsgeschichte
Bei der Parkinson-Krankheit sind Betroffene deutlich weniger beweglich (Bradykinese), zum anderen versteifen sich ihre Muskeln (Rigor) und viele zeigen ein Zittern (Tremor). In Deutschland gibt es etwa 400.000 Parkinson-Patienten.
Es vergingen fast 100 Jahre bis nach der Beschreibung der Parkinson-Krankheit durch James Parkinson im Jahr 1817 ein bedeutender Fortschritt im grundlagenwissenschaftlichen Verständnis der Parkinson-Krankheit erzielt wurde:
Die Lewy-Körperchen (Einschlusskörperchen mit Proteinablagerungen der Nervenzellen) wurden 1912 beschrieben.
1919 konnte man zeigen, dass die Substantia nigra (Kernkomplex im Mittelhirn) einen Verlust von Neuronen aufweist.
Die Verbindung zwischen dem Mangel an dem Botenstoff Dopamin und der Parkinson-Krankheit wurden 1957 verstanden.
Entwicklung von Therapien
In den 1960er Jahren wurde dann die Therapie der Parkinson-Krankheit erstmals durch Einführung von einer Hochdosis L-Dopa durch George Cotzias revolutioniert. Bis heute die bekannteste und effektivste dopaminerge Therapie für die Parkinson-Krankheit.
Die zweite Revolution nach der Entdeckung von L-Dopa kam per Zufall. 1987 entdeckte der französische Physiker und Neurochirurg Alim-Louis Benabid, dass sich durch eine Stimulation tiefer Hirnareale im Hochfrequenzbereich bei 100 Hz der Parkinsontremor nachließ. Damit war die Idee für den neuartigen Behandlungsansatz geboren und konnte dank dem technischen Fortschritt weiterentwickelt werden.
Tiefe Hirnstimulation
Bei der sogenannten Tiefen Hirnstimulation (THS) werden zwei Elektroden in das Gehirn eingesetzt, die über sehr feine unter der Haut liegende Kabel mit einem Hirnschrittmacher verbunden sind. Diese ist meist unter der Haut am Schlüsselbein eingesetzt. Die Elektroden senden schwache Strompulse (elektrische Impulse) an ganz bestimmte Zentren im Gehirn.
Dank der elektrischen Impulse, die vom Arzt optimal eingestellt werden können, lassen sich die allgemeine Beweglichkeit und das Zittern gut behandeln. Durch die ständige Weiterentwicklung wird diese Behandlung immer genauer, die Zielregionen können präziser angesteuert werden und an weiteren Optimierungen und symptombezogenen Anwendungen wird weiter intensiv gearbeitet.
Doch nicht genug, die Erfolgsgeschichte geht noch weiter. Denn nach beinahe zwei Jahrhunderten haben wir auch gelernt, dass etwa 5 Prozent aller Parkinson-Erkrankungen auf eine genetische Ursache zurückgehen. In jüngerer Zeit haben die dynamischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Parkinson-Genetik zu neuen therapeutischen Ansätzen und ersten genspezifischen klinischen Studien geführt.
Spinale Muskelatrophie – bisher nicht behandelbar?
Einen Durchbruch einer bislang kaum behandelbaren Erkrankung hat es erst in jüngster Zeit bei der Behandlung der spinalen Muskelatrophie gegeben. Sie gehört mit einer Häufigkeit von 1:10.000 zu den seltenen Erkrankungen.
Bei der spinalen Muskelatrophie kommt es zu einem zunehmenden Verlust bestimmter Zellen, den „motorischen Vorderhornzellen oder auch alpha-Motoneuronen“ im Rückenmark. Durch diesen Verlust können die Signale vom Gehirn und zu ihnen, sowie von ihnen zu den Muskeln nicht mehr weitergeleitet werden. Die Folge ist Muskelschwund (Muskelatrophie). Wenn Hirnnerven zusätzlich betroffen sind, kann es auch zu Einschränkungen der Schluck-, Kau- und Sprechfunktionen kommen.
In der Mehrzahl der Fälle erkranken Betroffene im Kindesalter und im weiteren natürlichen Verlauf führt die Erkrankung zu einem frühen Tod oder zu schwerwiegenden motorischen Behinderungen. Klassischerweise erfolgt eine Einteilung der Patienten mit einer spinalen Muskelatrophie in verschiedene „Typen“, je nach Alter zum Zeitpunkt der Erkrankung, dem Erreichen sogenannter motorischer Meilensteine und dem Überleben.
Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden
Auch wenn das klinische Bild sehr vielfältig und unterschiedlich sein kann, liegt die Ursache an einer genetischen Veränderung (Mutation). Dies kann mittels eines Bluttests festgestellt werden. Bei einem Defekt im SMN1-Gen (engl. survival motor neuron) steht seit Juli 2017 in Europa eine Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden (Nusinersen) zur Verfügung.
Wie funktioniert das? Antisense-Oligonukleotide (ASOs) dienen einer Art von Gen-Stummschaltungs-Behandlung, in der speziell entworfene DNA-Moleküle genutzt werden, um ein „Gen auszuschalten“. Bei Patienten mit einer spinalen Muskelatrophie besteht ein Mangel an einem bestimmten Eiweiß, dem SMN-Protein. Dieser Mangel führt vorwiegend zu einem Absterben (Degeneration) von motorischen Vorderhornzellen. Nusinersen hilft dabei, mehr von dem SMN-Protein zu produzieren.
Dadurch wird der Verlust von Nervenzellen reduziert und die Symptome der Erkrankung können verbessert werden. So konnten in der ENDEAR-Studie 51 Prozent der Kinder mit dem SMA-Typ 1 motorische Meilensteine erreichen, die im natürlichen Verlauf (also ohne Therapie) nicht zu erwarten gewesen wären. Dieser hoffnungsvolle Ansatz wird nun auch bei anderen neurologischen, neurodegenerativen Erkrankungen intensiv erforscht.
Die vorgenannten Therapieansätze zeigen bahnbrechende Fortschritte bei der Behandlung neurologischer Erkrankungen. Sie alle bedürfen der Information und Aufklärung auf allen Ebenen und müssen natürlich auch eine weitere Stärkung der Forschung nach sich ziehen. Dafür sind wir als Deutsche Hirnstiftung angetreten.
Haben Sie Fragen? Wir helfen Erkrankten und Angehörigen neutral und kostenfrei im Online Chat und am Telefon unter 030 531 437 936 (Mo-Fr, 10-14 Uhr).
Autorin: Prof. Dr. med. Kathrin Reetz, Stellvertretende Präsidentin der Deutschen Hirnstiftung, Geschäftsführende Oberärztin der Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum RWTH Aachen