Susanne P. ist 22 Jahre alt und hat vor einem Jahr die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhalten. Durch die medikamentöse Therapie kam es bei ihr bisher nicht zu weiteren Krankheitsschüben. Jetzt steht die Studentin kurz vor dem Bachelor-Abschluss, das Lernpensum ist seit Monaten hoch und wie alle Studierenden hat sie auch Angst vor den anstehenden Prüfungen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es in ihrer Beziehung zu ihrem Freund Moritz kriselt. Eines Morgens hat sie ein taubes Gefühl im rechten Bein. Ihre Neurologin veranlasst daraufhin ein MRT: Neue MS-Herde im Gehirn bestätigen den Verdacht eines MS-Schubs.
Susannes Geschichte ist nicht ungewöhnlich – doch war der Stress wirklich Auslöser des MS-Schubs? „100-prozentig beweisen lässt sich das nicht. Es gibt verschiedene bekannte Auslöser von MSSchüben, wie z. B. eine Infektionskrankheit mit hohem Fieber, bei Frauen auch Hormonumstellungen, z. B. durch eine Schwangerschaft, oder chronischer Stress – aber Schübe können immer auch ‚einfach so‘ auftreten“, erklärt Prof. Dr. Frank Erbguth. Präsident der Deutschen Hirnstiftung.
Stress kann neurologische Krankheiten verstärken
Ein statistischer Zusammenhang von Stress und MS-Schüben ist mittlerweile wissenschaftlich gut belegt. So bestätigte ein systematisches Review aus dem Jahr 2022 [1], in dem insgesamt zwölf relevante Studien ausgewertet wurden, einen engen Zusammenhang zwischen MS-Schüben und chronischen Stress. Die Frage, ob dieser auch Auslöser der Erkrankung sein kann, ist allerdings noch nicht zu beantworten, die Datenlage ist widersprüchlich.
Auch bei anderen neurologischen Krankheiten kann chronischer Stress die Symptome verstärken bzw. zu häufigeren Attacken führen, zum Beispiel bei chronischen Schmerzleiden wie der Migräne. „Stress hat einen erheblichen Einfluss auf chronische Kopfschmerzerkrankungen, an denen in Deutschland rund acht Millionen Menschen leiden [2]“, so Erbguth. Auch bei Parkinson und Alzheimer führt Stress dazu, dass sich die Symptome verstärken.
Wie wirkt Stress auf das Nervensystem?
Wie der Experte erklärt, werden bei Stress Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ausgeschüttet. Ist ihre Konzentration im Blut dauerhaft erhöht, kann das zu Entzündungen des Nervengewebes (sog. Neuroinflammation) führen. Die Neuroinflammation wird durch Immunzellen des Körpers in Gang gesetzt und aufrechterhalten, die bei Stress leichter in das Gehirn gelangen können, da die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger wird. „Bekannt ist auch, dass Neuroinflammation die Schmerzempfindlichkeit erhöht und zu Veränderungen an den Gefäßen führt, die zur Verschlechterung von Kopfschmerzen beitragen könnten.“
Neuroinflammation verstärkt auch neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson und die Autoimmunerkrankung MS. Es kommt ebenfalls zu einer durchlässigeren Blut-Hirn-Schranke, so dass Immunzellen, die durch Stress aktiviert werden, in das Gehirn gelangen und dort eine Zunahme der Abbauprozesse (Parkinson) oder Schübe (MS) auslösen können. Solche akuten Schübe werden dann bei der MS mit Kortikosteroiden behandelt, die entzündungshemmend wirken und die Immunreaktion des Körpers abschwächen.
„Sowohl bei Parkinson, Alzheimer und MS gilt die Neuroinflammation als ein wesentlicher Faktor der Krankheitsprogression“, erklärt der Präsident der Deutschen Hirnstiftung. „Selbst akuter Stress führt bei Menschen mit Parkinson dazu, dass sich das typische Zittern verschlimmert und die Bewegungsverlangsamung zunimmt [3].“
Was macht den Körper stressresilienter?
„Gerade Menschen mit chronischen neurologischen Krankheiten sollten darauf achten, sich nicht zu viel Stress auszusetzen. Außerdem können sie gezielt und kontinuierlich etwas für die Stressprophylaxe tun“, erklärt der Neurologe Erbguth. Dazu zählt vor allem regelmäßiger Sport. Ausdauersport reduziert die Neuroinflammation, denn er senkt die Stresshormonspiegel und führt zur Ausschüttung sog. neurotropher Faktoren, die auch einen nervenschützenden Effekt haben [4].
„Menschen mit chronisch neurologischen Erkrankungen machen oft den Fehler, dass sie meinen, sich schonen zu müssen und dadurch körperlich immer inaktiver werden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Regelmäßiger Ausdauersport hilft dem Körper, mit Stress fertig zu werden und das Krankheitsfortschreiten zu verlangsamen. Das ist der Grund, warum Patientinnen und Patienten mit Parkinson, MS und auch Migräne zum Sport geraten wird.“
Des Weiteren empfiehlt der Experte Strategien der Achtsamkeit und Stressreduktion, wie Yoga, Meditation oder Atemübungen. „Das Leben ist oft so, dass wir uns dem Stress nicht komplett entziehen können, wir können unseren Geist und Körper aber durch Sport und bewusste ‚Pausen‘ stressresilienter machen. Gerade Menschen mit neurologischen Krankheiten sollten diese Option nutzen.“
Quellen
[1] Jiang J, Abduljabbar S, Zhang C, Osier N. The relationship between stress and disease onset and relapse in multiple sclerosis: A systematic review. Mult Scler Relat Disord. 2022 Nov; 67: 104142. doi: 10.1016/j.msard.2022.104142. Epub 2022 Aug 22. PMID: 36155965.
[2] Fink, G. Kopfschmerzen – unterschätzt, unterdiagnostiziert und unterbehandelt. InFo Neurologie 25, 3 (2023). https://doi.org/10.1007/s15005-023-3351-3
[3] van der Heide A, Speckens AEM, Meinders MJ, Rosenthal LS, Bloem BR, Helmich RC. Stress and mindfulness in Parkinson’s disease – a survey in 5000 patients. NPJ Parkinsons Dis. 2021 Jan 18;7(1):7. doi: 10.1038/s41531020-00152-9. PMID: 33462213; PMCID: PMC7813889.
[4] Zimmer P, Oberste M, Bloch W. Einfluss von Sport auf das zentrale Nervensystem – Molekulare und zelluläre Wirkmechanismen. Dtsch Z Sportmed. 2015; 66: 42-49 doi:10.5960/dzsm.2015.164
