Frau Blum, wie hat sich Ihr Leben nach dem Schlaganfall Ihres Mannes verändert – sowohl praktisch als auch emotional?
Ich befand mich im Ausnahmezustand – im Schock. Mein Mann wurde ins Krankenhaus eingeliefert, und die Diagnose hieß Schlaganfall und etwas später hieß es globale Aphasie. Von dem Wort Aphasie hatte ich bis dahin überhaupt noch nie irgendetwas gehört. Ich fuhr jeden Tag zu ihm.
Von der ersten Minute an wurde ich zur Ansprechpartnerin für Ärzte, für Kliniken, für Versicherungen, wirklich für alles und jeden. Ich war von heute auf morgen Pflegerin, Organisatorin, Managerin und Betreuerin. Ich funktionierte einfach, ohne das volle Ausmaß zu begreifen.
Als ich ihn dann aus der Rehaklinik abholte, wurde die Pflegezeit sehr viel intensiver und mühsamer. Er hatte ja jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Er vergaß Verabredungen oder Termine, war nicht mehr in der Lage zu planen oder selbstständig zu handeln.
Ich habe mit einem Menschen gelebt, der kaum noch antworten konnte und sich auch in mich nicht mehr hineinversetzen konnte. Ich legte ihm Schreibmaterial bereit, falls er ein Wort aufschreiben wollte – was allerdings selten funktionierte.
Newsletter abonnieren
Bleiben Sie zu interessanten Themen und Terminen immer auf dem Laufenden – mit unserem monatlichen Newsletter.
Irgendwann ging es nicht mehr um „uns“, sondern fast ausschließlich um ihn. Auch seine Persönlichkeit veränderte sich – was neben dem Sprachverlust eine zusätzliche Belastung war. Ich musste lernen, mich an sein Tempo anzupassen, Geduld zu üben und mich zurückzunehmen.
Es war eine sehr belastende, angsterfüllte Zeit. Ich habe schlecht geschlafen, manchmal nur drei Stunden in der Nacht, habe unregelmäßig gegessen, habe mich nur noch auf ihn eingestellt. Ich musste lernen, von da an alles mit mir allein auszumachen.
Welche bürokratischen Hürden gab es in der ersten Zeit? Hatten Sie Hilfe und wenn ja, von wem?
Die größte bürokratische Hürde war der Antrag auf Pflegegrad. Er war umfangreich und komplex, gerade, wenn man sich mit diesen Dingen nicht auskennt. Ich hatte das Gefühl, für etwas kämpfen zu müssen, das doch eigentlich offensichtlich war.
In der Früh-Rehaklinik hatte man für ihn bereits einen Pflegegrad beantragt – er bekam vorläufig Pflegegrad 1. Noch in der Klinik sprach ich mit dem leitenden Stationsarzt darüber und sagte, dass ein Mensch, der nicht mehr in der Lage ist zu lesen, zu schreiben oder zu sprechen und komplexe Aufgaben nicht mehr eigenständig bearbeiten kann, definitiv auf Pflege angewiesen ist.

Ich erklärte, dass ich mindestens Pflegegrad 2 oder 3 brauche und dies beantragen werde. Der Stationsarzt machte mir jedoch keinerlei Hoffnung – aus seiner Erfahrung heraus würde das nicht funktionieren.
Besonders frustrierend war es, Hilfsmittel für ihn, das heißt digitale Therapiesoftware zu beantragen. Vieles wurde abgelehnt, obwohl gerade solche Unterstützung für das tägliche Training zu Hause entscheidend gewesen wäre.
Als sehr schwierig habe ich auch empfunden, dass so wenige Ärztinnen und Ärzte wirklich über das Thema Aphasie Bescheid wissen. Wenn es um ärztliche Verordnungen oder Heilmittel ging, hatte ich oft den Eindruck, dass sich niemand zuständig fühlte.
Wie haben Sie die Kommunikation mit Ihrem Mann erlebt, insbesondere im Umgang mit der Aphasie? Haben sich mit der Zeit bestimmte Strategien oder Rituale entwickelt?
Mein Mann hatte nach dem Schlaganfall ja eine globale Aphasie, also die schwerste Form einer Aphasie. Das war eine der größten Herausforderungen – für ihn und auch für mich. Er hatte extreme Wortfindungsstörungen. Seine Sprache war abgehackt, stockend, oft nur einzelne Wörter – manchmal auch gar keine. Er hat sich bemüht, wirklich.
Kostenfreies Infomaterial
Wir bieten Ihnen kostenfrei Infoblätter zu neurologischen Krankheiten, Patienten-Leitlinien und unser Magazin Nervensache – zum Verteilen an Erkrankte, Angehörige und Interessierte.
Aber ich habe gemerkt, wie frustrierend es für ihn war, wenn die Worte einfach nicht kamen. Und wie hilflos ich mich fühlte, wenn ich ihn nicht verstehen konnte. Man lernt, mit Blicken zu kommunizieren, mit Gesten, mit den Augen. Aber es blieb schwer – jeden Tag, in jedem Gespräch.
Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich meine eigene Art zu sprechen komplett anpassen musste. Ich sprach langsamer, verwendete einfachere Wörter und fragte immer wieder nach, ob er wirklich verstanden hatte, worum es ging. Denn es passierte oft, dass ich dachte, er habe den Inhalt eines Gesprächs erfasst – und später stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war.
Gab es Momente, in denen Sie an Ihre Grenzen gekommen sind? Wie sind Sie mit diesen Herausforderungen umgegangen?
Ja, unzählige. Besonders tragisch war es, wenn zunächst kleine Fortschritte erzielt wurden, die dann durch Rückschläge zunichtegemacht wurden. Diese ständige Hoffnung und Enttäuschung zermürben.
Eine große Traurigkeit überkam mich, als ich erkannte, dass die Beziehung keine Partnerschaft auf Augenhöhe mehr war und auch mein Lebensentwurf verschwunden war. Es war ein massives Ungleichgewicht und eine Beziehung in völliger Disbalance.

Und natürlich ist man irgendwann müde und erschöpft und verzweifelt und einsam innerhalb dieser Beziehung, deswegen eben, weil gar keine Reaktionen oder nur stark veränderte Reaktionen von ihm kamen.
Wenn ich auf über Alltägliches mit ihm gesprochen habe, dann gab es keine Resonanz. Es gab keine WhatsApp Nachrichten mehr. Er war nicht mehr empathisch. Er lebte in seiner eigenen Welt. Das meine ich nicht vorwurfsvoll. Seine Persönlichkeit hatte sich damals verändert und das macht schon was mit einem, wenn man nur noch organisiert.

Werden Sie Mitglied!
Als Mitglied der Hirnstiftung helfen Sie, unsere kostenfreie Patientenberatung und bundesweite Aufklärungsarbeit zu neurologischen Erkrankungen weiter auszubauen.
Ich suchte Gespräche mit meiner Familie und meinen Freunden oder Bekannten, rief manchmal die Telefonseelsorge an, um nicht alles allein mit mir auszumachen. Sport half mir, für kurze Zeit abzuschalten. Der Austausch in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Aphasikern gab mir ebenfalls Halt und Verständnis.
Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, weil ich weiß, wie einsam und hilflos sich diese Situation anfühlen kann. Persönliche Geschichten zeigen oft mehr als jede Statistik. Sie machen sichtbar, wie schwierig das Leben pflegender Angehöriger sein kann – und wo unser Gesundheitssystem versagt.

Welche Botschaft möchten Sie anderen pflegenden Angehörigen mitgeben, die sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden?
Binden Sie von Anfang an Ihr Umfeld ein – und haben Sie keine Scheu, offen über die Erkrankung zu sprechen. Erklären Sie, was Aphasie bedeutet, suchen Sie sofort das Gespräch mit Ärzt:innen, Therapeut:innen und dem Sozialdienst im Krankenhaus.
- Sucht euch Unterstützung! Das können Menschen im Umfeld sein, die wirklich zuhören, eine Selbsthilfegruppe oder eine professionelle Beratungsstelle wie die EUTBÖffnet in neuem Tab, ein staatlich finanziertes Beratungsangebot für Menschen mit Behinderungen, von Behinderung bedrohte Menschen sowie Angehörige.
- Kümmert euch frühzeitig um Bürokratie: Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten, Pflegegrad beantragen – all das kostet zwar viel Zeit und Kraft, ist aber extrem wichtig, um später handlungsfähig zu sein.
- Nutzt Angebote wie betreutes Wohnen oder Einzelfallhelfer, wenn ihr merkt, dass die Last zu groß wird. Man muss nicht alles allein schaffen.
- Nehmt euch Zeit für euch selbst, auch wenn es schwierig ist. Pausen sind keine Schwäche, sondern Überlebensstrategie.
- Sprecht offen über eure Gefühle – über die Überforderung, die Wut, die Traurigkeit. Scham oder Angst vor Verurteilung helfen niemandem.

Diese Tipps habe ich nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus eigener Erfahrung mitgebracht. All das und viele weitere Hilfsangebote habe ich in meinem Buch zusammengetragen: Checklisten, Adressen, Tipps. Alles, was ich mir damals gewünscht hätte.
Haben Sie Fragen? Hier finden Sie umfangreiche Informationen zu Aphasie.

Hat Ihnen dieser Beitrag geholfen?
Mit Ihrer Hilfe können wir weitere erstellen und unsere bundesweite Aufklärung zu neurologischen Erkrankungen ausweiten. Ab einer Spende von 200 Euro stellen wir gerne eine Spendenbescheinigung aus.
