17.10.2022

Neglect: Therapie von visuell-räumlichen Aufmerksamkeitsstörungen

Von Prof. Dr. Anna Gorsler, Ärztliche Direktorin und Chefärztin unseres Mitglieds Neurologische Rehabilitationsklinik Beelitz-Heilstätten

Besonders nach einem Schlaganfall in der rechten Hälfte des Gehirns ist bei vielen Betroffenen die Wahrnehmung einseitig vermindert (Neglect). Das reicht vom Sehen und Hören bis zum Schmecken. Auch nutzen Erkrankte ihre betroffene Körperhälfte weniger. Das schränkt im Alltag deutlich ein. Zudem sind sich Betroffene ihrer Beeinträchtigungen häufig nicht bewusst. Verschiedene Therapien helfen, die Wahrnehmung wieder zu verbessern.

Der Artikel im Überblick:

Als Neglect (aus dem Lateinischen neglegere = nicht wissen, vernachlässigen) bezeichnet man eine einseitige Vernachlässigung von Reizen auf der Raum- oder Körperhälfte sein, die der geschädigten Hirnhälfte gegenüberliegt [1]. Insbesondere nach Schlaganfällen in der rechten Hirnhälfte erleben Betroffene in 30-40% einen anhaltenden Neglect [2].Diese einseitige verminderte Wahrnehmung schränkt die Betroffenen im Alltag deutlich ein. Sie kann alle Sinneskanäle (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken) und auch die räumliche Vorstellung von Objekten betreffen sowie zu einem verminderten Einsatz der betroffenen Körperhälfte führen.

Wie zeigt sich Neglect und wie wirkt er sich im Alltag aus?

Bei rechtsseitiger Hirnschädigung zeigen Betroffene eine Vernachlässigung (Neglect) nach links und eine Kopf- und Blickwendung nach rechts. Umgebungsgeräusche, Gegenstände oder Hindernisse auf der vernachlässigten linken Seite werden nicht wahrgenommen. Es treten Schwierigkeiten beim Schreiben oder Lesen auf, da der Blick nicht bis zum Zeilenanfang nach links gewendet wird und Sätze unvollständig gelesen werden.

Die basale Körperpflege mit Kämmen, Waschen, Rasieren wird linksseitig vernachlässigt. Beim Essen kann es zum Verschlucken kommen, da Essensreste in der linken Wangentasche nicht wahrgenommen werden. Der Teller wird nur zur Hälfte leer gegessen.

Schmerzreize auf der linken Körperseite werden weniger stark bemerkt und Schutzfunktionen (zum Beispiel Armeinsatz beim Sturz) fehlen. Probleme bei der sozialen Kommunikation können durch Schwierigkeiten beim Aufnehmen und Halten des Blickkontakts entstehen. Eine reduzierte Fähigkeit der Patientinnen und Patienten, emotional angemessen auf Gespräche und Situationen oder auf das soziale Gegenüber zu reagieren, können die soziale Interaktion und Teilhabe erschweren [1].

Ursachen von Neglect und seinen Auswirkungen

Dem Neglect liegt häufig eine Hirnschädigung im Schläfen- und Scheitellappen der Großhirnrinde zugrunde. Es können auch tiefer liegende Strukturen des Zwischenhirns betroffen sein, die im engen Austausch mit der Großhirnrinde stehen und filtern, welche Signale zur Großhirnrinde weitergeleitet werden.

Darüber hinaus ist das Zusammenspiel von Hirnregionen beeinträchtigt, die verschiedene Sinnesfunktionen verarbeiten und für die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum (Körperhaltung, Orientierung im Raum, Eigenbewegung, Navigation, Gleichgewicht, Exploration etc.) und Aufmerksamkeitslenkung entscheidend sind.

Untersuchung des Neglects

Die Ausprägung des Neglects kann mit unterschiedlichen Testverfahren gemessen werden, bei denen Verhaltensbeobachtungen (zum Beispiel Catherine Bergego Scale) oder mittels Suchaufgaben die räumliche Ausrichtung getestet wird (Linien halbieren, Zeichnen oder Abzeichnen, Computer gestützte Programme; siehe Abbildung 1).

Typischerweise führen Erkrankte die Aufgaben so aus, dass die subjektive Mitte bei der Linienhalbierung zur gesunden Seite verschoben ist und dass bei Suchaufgaben Objekte auf der betroffenen Seite nicht markiert werden. Beim Abzeichnen wird das Bild nur zur Hälfte kopiert, die Zahlen der Uhr werden in die falsche Raumhälfte projiziert.

Abbildung 1: Testproben von Erkrankten mit rechtsseitiger Hirnschädigung

(A) Linienhalbieren* – Aufgabe: Die abgebildete Linie ist in der Mitte zu halbieren. Ergebnis: blauer Strich ist die objektive Mitte, die rote Markierung der untersuchten Person ist deutlich nach rechts verschoben. *Testvorlagen aus der Neglect Testbatterie (NET) von Fels & Geissner, 1997.

(B) Explorationstest – Aufgabe: Durchstreichen aller Glocken auf dem DIN-A-4 Blatt. Ergebnis: Auslassungen vor allem auf der vernachlässigten linken Blatthälfte

(C) Abzeichnen/Uhrtest* – Aufgabe: Zeichnen Sie möglichst genau die gezeigten Gegenstände ab, zeichnen Sie eine Uhr mit den Ziffern von 1 bis 12 und der genannten Uhrzeit. Ergebnis: Objektbezogener Neglect, bei dem Objekte (unabhängig von der Lage im Raum) unvollständig gezeichnet sind.

Therapiemöglichkeiten von Neglect

Alle Therapieansätze zielen darauf ab, die Wahrnehmung der betroffenen Körper- und Raumhälfte wiederherzustellen. Eine parallele Förderung von Konzentration, Belastbarkeit oder des Bewusstseins für die eigenen Defizite kann ebenfalls zu Verbesserungen führen.

Das effektivste Zeitfenster für intensive rehabilitative Behandlungen liegt in den ersten 3-4 Monaten nach dem schädigenden Ereignis, da in diesem Zeitfenster die Umstrukturierung des Gehirns stattfindet. Die Behandlung des Neglects sollte daher früh nach der Schädigung beginnen.

Bisher sind nur wenige Therapien zur Verbesserung der Neglectsymptomatik im klinischen Alltag etabliert [3]. Empfehlungen und Einschätzungen zur Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen basieren bislang vor allem auf klinischer Erfahrung [4].

Die aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten ist bei den verschiedenen Therapieansätzen unterschiedlich. Die Wahl der Maßnahmen, einzeln oder in Kombination, richtet sich nach der Ausprägung des Neglects und Belastbarkeit der Patienten.

Ziel ist es, multiple Hirnareale zu aktivieren, die die Aufmerksamkeitslenkung und Hinwendung zum vernachlässigten Halbfeld bzw. die Wahrnehmung der vernachlässigten Körperhälfte anregen und dadurch fehlerhafte visuell-räumliche Funktionen verbessern sollen. Dazu zählen (sortiert nach steigender Belastbarkeit und Aufmerksamkeitsleistung des Patienten):

Nackenmuskelvibration zur Stimulation der Tiefensensibilität, durch die eine Blickwendung zur vernachlässigten Seite angeregt wird.

Galvanische vestibuläre Stimulation (GVS) durch die elektrische Stimulation des Gleichgewichtssystems wird die Verarbeitung von Raum- und Körperinformationen stimuliert und das Körperempfinden/die Körperwahrnehmung verbessert.

Handeln im Raum in Form von Arm-/Zeigebewegungen. Die Kopplung von Hand-/Arm-Augenbewegungen über die Körpermitte hinaus in die betroffene Raumhälfte unterstützt die Funktionsaktivierung in der geschädigten Hirnhälfte und regt die Steuerung visueller Aufmerksamkeitsprozesse an.

Optokinetische Stimulation (OKS). Bei der OKS (Abbildung 2A) werden bewegte Einzelreize am Bildschirm oder an der großen Leinwand mit den Augen fixiert und bis zur vernachlässigten Seite mitverfolgt (Verschiebung der subjektiven Mitte). Für die Wirksamkeit der OKS besteht bisher die beste wissenschaftliche Evidenz. OKS wirkt nicht nur positiv auf die Reduzierung des visuellen Neglects, sondern hat auch förderliche Effekte auf nicht-visuelle Beeinträchtigungen und stärkt die eigene Wahrnehmung der Defizite.

Abbildung 2A: Nachverfolgen (mit zusätzlicher Zeigebewegung) von sich bewegenden visuellen Reizen (hier grüne Lichtpunkte) in das vernachlässigte Gesichtsfeld (OKS)

Visuo-motorisches Feedbacktraining. Ein Stab wird mittig mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand (bei rechtsseitiger Hirnschädigung) gegriffen und angehoben, so dass der Stab im Gleichgewicht ist. Fällt der Stab auf eine Seite, weil die subjektive Mitte von der objektiven Mitte abweicht, erhalten Trainierende dadurch ein direktes Feedback und können beim Greifen die Mitte sukzessive korrigieren, bis der Stab im Gleichgewicht ist.

Visuelles Explorationstraining (ältester Ansatz). Das Training kann als einfaches „Sakkadentraining“ (der Kopf ist fixiert auf die Mitte und nur die Augen bewegen sich zu den vorgegebenen Reizen) oder „Explorationstraining“ durchgeführt werden.

Exploration umfasst das Einüben koordinierter Augen- und Kopfbewegungen. Hier wird eine Vorlage nach vorgegebenen Reizen abgesucht (Abbildung 1B: Reiz: Vorgabe absuchen und alle „Glocken“ markieren) mit dem Ziel eine geordnete Suchstrategie zu entwickeln und sich aktiv der vernachlässigten Seite hinzuwenden.

Die Größe der Suchvorlagen (DIN A4-Blatt Papier, Bildschirm, Leinwand) kann individuell variiert werden. Die Exploration kann auch auf der Tischebene mit Suchen nach vorgegebenen Alltagsgegenständen erfolgen (Tischtest, Abbildung 2B).

Der Schwierigkeitsgrad der Explorationsaufgaben kann über die Zeit gesteigert werden. Unterstützend können Hinweisreize (visuelle, Hör- oder Berührungsreize) gegeben werden, um die Aufmerksamkeit zu lenken.

Abbildung 2B: Explorationstraining anhand des Tischtests, Suche nach vorgegeben unbeweglichen Gegenständen auf einem Tisch

Die Einsicht für die eigenen Defizite kann gestärkt werden durch angemessene Rückmeldungen bei Alltagsproblemen/Situationen, dosierte Konfrontation mit den eigenen Schwierigkeiten und auch der wiederholten Information und Aufklärung zur Erkrankung und Ursachen.

Mit fortschreitender Therapie werden dann die Fähigkeiten in einfache bis hin zu komplexeren Alltagsabläufen (Doppelaufgaben) eingebunden.

Selbst wenn der Neglect nicht mehr so augenscheinlich wie zu Beginn ist, kann es im Alltag zu Beeinträchtigungen kommen, wenn die Komplexität steigt (zum Beispiel wenn viele Störquellen im Alltag vorhanden sind).

Hier fehlen derzeit jedoch etablierte Verfahren, um die Schwierigkeiten standardisiert zu erfassen und zu behandeln. Diese sind jedoch dringend erforderlich, da selbst ein subtiler Neglect relevante Auswirkungen auf zum Beispiel die eigene Fahrtauglichkeit, Berufsausübung oder Sicherheit im Straßenverkehr haben kann.

Quellen:


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Titelbild: iStock / stockfour (1176602017)

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